„Der Werterelativismus frisst uns alle auf.“, sagt Heiko. Ich
bin widerwillig beeindruckt. Ich hätte Geld darauf verwettet, das
Fremdwörterbuch, das wir ihm aus Spaß zum Tauftag geschenkt haben,
unter der wackelnden Ecke seines hässlichen Wohnzimmertischchens
wiederzufinden. Aber der Tisch wackelt weiterhin und Heiko spricht
plötzlich über den Werterelativismus.
Denken und Sprache bedingen sich gegenseitig. Hunger, Müde,
Geil, sowas kann man fühlen. Über den Werterelativismus
hingegen kann man ohne das Wort „Werterelativismus“ so rein gar
nichts denken, weswegen sich ein Wörterbuch zu Heiko ähnlich
verhält, wie lebenslange Gratismunition zu einem blinden
Sportschützen. Nett gemeint, aber wenn der Sani dann schließlich um
die Kurve biegt, denken wieder mal alle, dass man das auch hätte
kommen sehen können. Bis auf den blinden Sportschützen natürlich.
Der nicht.
„Der Werterelativismus frisst uns alle auf.“, sagt Heiko noch einmal. Ich sehe von meinem Glas auf. Im Weser-Eck gibt es das Pils schon für 1,30 €, aber die Westentaschenphilosophie, na die kommt dich teuer zu stehen.
„Der Werte...“, sagt Heiko. „Ja, ja.“, sage ich. „Was
soll denn das heißen? Werterelativismus?“
„Na, weiste noch, wie ich früher immer die Globalisierung
verteufelt habe?“
„Ja, kann mich erinnern.“
„Und daran, wie ich gegen die Religion protestierte? Und gegen
die Entfremdung der Menschen durch sogenannte
Kommunikationstechnologie? Und gegen deine Ex-Freundin, die hässliche
Hannah?“
„Ja, ich kann mich an die letzte Viertelstunde noch gut
erinnern.“
„Alles Quatsch! Der wahre Feind ist der Werterelativismus! Schau
mal, früher, da hatten die Menschen noch klare Vorstellungen von gut
und böse. Gut, das waren wir. Böse, das waren die Kommunisten. Oder die
Feministinnen, die CSU. Oder jeder, der irgendwas besser konnte, als
man selbst. Da hatte man immer sofort eine Aufgabe, nämlich die
fortwährende Demonstration der eigenen moralischen Überlegenheit.
Was, frage ich dich, sollte dem Mensch ein stärkerer Antrieb sein?“
„Ja, aber Horst Seehofer
beginnt den Tag doch auch nicht mit fiesem Frühsport und Hass-Honig
über seinem misanthropischem Müsli, damit er gewappnet ist für
einen weiteren teuflischen Tag voll Vetternwirtschaft und
quasiroyalem Rumgequalle. Der macht doch auch nur, was er für
richtig hält.
Es denkt doch niemand von sich selbst als böse. Oder dumm. Oder
hässlich.“, sage ich.
„Und doch ist es so, wie man an Hannah hat sehen können...“,
erwidert Heiko.
Wir stoßen an und etwas vom Schaum bleibt nass schimmernd auf dem
lackierten Holztresen zurück.
„Und genau das...“, fährt Heiko ungerührt fort. „..., ist
der Punkt! Jeder hat doch seine Überzeugungen, seine Geschichte,
seine persönliche Moral. Nur, dass meine Eltern nicht damit
belästigt wurden. Die haben einfach im Schwarzen Kanal geguckt, wen
es gerade zu verachten gilt und fertig war die Laube. Aber wenn ich
mal sage, dass man allen Pädophilen den Schwanz abhacken sollte,
bombardiert man mich mit Studien zum Thema Resozialisierung,
Erzählungen über gewalttätige Väter oder Pamphleten über die
Notwendigkeit einer freien Kunst in einer freien Gesellschaft. In der
Informationsgesellschaft ist jeder ein Experte für alles, aber der
Edarthy hat sich nun mal Bilder von nackten Jungs aus Kanada kommen
lassen und ich soll ihn dafür nicht mal kastrieren wollen dürfen!?“
„Na ja,“, sage ich und ziehe das zweite a über Gebühr in die
Länge. „Es gibt ja trotzdem eine übergeordnete, allgemeingültige
Moral. Mord zum Beispiel. Der ist gesellschaftlich geächtet.“
„Aha, was alle wollen ist also richtig? Du bist Anhänger
einer“, ich kann sehen, wie er in Gedanken die richtige Seite im
Wörterbuch sucht „Anhänger einer plebiszitären Ethik? Heißt
das, ich dürfte dir jetzt eins mitten ins Gesicht hauen, wenn ich
mindestens eine Person finde, die sich zu uns an den Tisch setzt und
mein Vorhaben gutheißt?“ Ich verschlucke mich vor Schreck. Heiko
nutzt die Gunst der mir schaumig aus dem Schlund sprudelnden Sekunde
und ruft quer durch den raucherfüllten Raum: „Wer unterstützt
mein Vorhaben, diesem Herren hier kraftvoll eins in die Fresse zu
zimmern?“
„Ich!“, dröhnt aus einer dunklen Ecke schräg gegenüber.
„Hannah?“, fragen Heiko und ich unisono. Streng genommen fragt
Heiko, bei mir klingt es eher wie „Hgrngha?“, aber wer wird denn
jetzt kritisch sein?
Die Suche nach Worten, derer es bedarf, um die Art und Weise zu
beschreiben, in welcher Hannah sich bedrohlich unseren Hockern
nähert, führt früher oder später zu dem Regal mit den Militärika.
„Vorstoß“ wäre so ein Wort. Vielleicht auch „Walzen“ oder
„Kollateralschaden“, auf keinen Fall aber „Giraffe“ oder
„Himbeere“. Ich habe mich oft gefragt, wie Menschen sich fühlen,
die neben einem aktiven Vulkan leben müssen, was sie denken,
wenn sie zur Spitze des alles überragenden Massivs aufblicken und
dort die ersten dunklen Rauchwölkchen erkennen können.
„<<<>>>“, atmet Hannah und knackt dabei mit
dem Unterkiefer.
„Weißt Du...“, flüstert Heiko mir ins Ohr. „...eigentlich
wollte ich dir nur dein Bier klauen. Ich hätte es mir geschnappt und
dann damit begründet, dass das aus meiner Perspektive geradezu eine
Heldentat gewesen sei, weil ich dich so vor einem Arbeitstag voller
Kopfschmerzen bewahrt hätte oder irgend so einen Quatsch. Aber ich
muss sagen, das hier finde ich noch viel witziger.“
„Geht mir anders.“, sage ich aus dem Mundwinkel heraus.
„Der Werterelativismus frisst uns alle auf“, sagt Heiko, nippt an meinem Bier und lehnt sich zurück.
„Der Werterelativismus frisst uns alle auf“, sagt Heiko, nippt an meinem Bier und lehnt sich zurück.
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