Mittwoch, 2. April 2014

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Über Relativität


„Der Werterelativismus frisst uns alle auf.“, sagt Heiko. Ich bin widerwillig beeindruckt. Ich hätte Geld darauf verwettet, das Fremdwörterbuch, das wir ihm aus Spaß zum Tauftag geschenkt haben, unter der wackelnden Ecke seines hässlichen Wohnzimmertischchens wiederzufinden. Aber der Tisch wackelt weiterhin und Heiko spricht plötzlich über den Werterelativismus.
Denken und Sprache bedingen sich gegenseitig. Hunger, Müde, Geil, sowas kann man fühlen. Über den Werterelativismus hingegen kann man ohne das Wort „Werterelativismus“ so rein gar nichts denken, weswegen sich ein Wörterbuch zu Heiko ähnlich verhält, wie lebenslange Gratismunition zu einem blinden Sportschützen. Nett gemeint, aber wenn der Sani dann schließlich um die Kurve biegt, denken wieder mal alle, dass man das auch hätte kommen sehen können. Bis auf den blinden Sportschützen natürlich. Der nicht.

„Der Werterelativismus frisst uns alle auf.“, sagt Heiko noch einmal. Ich sehe von meinem Glas auf. Im Weser-Eck gibt es das Pils schon für 1,30 €, aber die Westentaschenphilosophie, na die kommt dich teuer zu stehen.
„Der Werte...“, sagt Heiko. „Ja, ja.“, sage ich. „Was soll denn das heißen? Werterelativismus?“
„Na, weiste noch, wie ich früher immer die Globalisierung verteufelt habe?“
„Ja, kann mich erinnern.“
„Und daran, wie ich gegen die Religion protestierte? Und gegen die Entfremdung der Menschen durch sogenannte Kommunikationstechnologie? Und gegen deine Ex-Freundin, die hässliche Hannah?“
„Ja, ich kann mich an die letzte Viertelstunde noch gut erinnern.“
„Alles Quatsch! Der wahre Feind ist der Werterelativismus! Schau mal, früher, da hatten die Menschen noch klare Vorstellungen von gut und böse. Gut, das waren wir. Böse, das waren die Kommunisten. Oder die Feministinnen, die CSU. Oder jeder, der irgendwas besser konnte, als man selbst. Da hatte man immer sofort eine Aufgabe, nämlich die fortwährende Demonstration der eigenen moralischen Überlegenheit. Was, frage ich dich, sollte dem Mensch ein stärkerer Antrieb sein?“
„Ja, aber Horst Seehofer beginnt den Tag doch auch nicht mit fiesem Frühsport und Hass-Honig über seinem misanthropischem Müsli, damit er gewappnet ist für einen weiteren teuflischen Tag voll Vetternwirtschaft und quasiroyalem Rumgequalle. Der macht doch auch nur, was er für richtig hält.
Es denkt doch niemand von sich selbst als böse. Oder dumm. Oder hässlich.“, sage ich.
„Und doch ist es so, wie man an Hannah hat sehen können...“, erwidert Heiko.
Wir stoßen an und etwas vom Schaum bleibt nass schimmernd auf dem lackierten Holztresen zurück.

„Und genau das...“, fährt Heiko ungerührt fort. „..., ist der Punkt! Jeder hat doch seine Überzeugungen, seine Geschichte, seine persönliche Moral. Nur, dass meine Eltern nicht damit belästigt wurden. Die haben einfach im Schwarzen Kanal geguckt, wen es gerade zu verachten gilt und fertig war die Laube. Aber wenn ich mal sage, dass man allen Pädophilen den Schwanz abhacken sollte, bombardiert man mich mit Studien zum Thema Resozialisierung, Erzählungen über gewalttätige Väter oder Pamphleten über die Notwendigkeit einer freien Kunst in einer freien Gesellschaft. In der Informationsgesellschaft ist jeder ein Experte für alles, aber der Edarthy hat sich nun mal Bilder von nackten Jungs aus Kanada kommen lassen und ich soll ihn dafür nicht mal kastrieren wollen dürfen!?“
„Na ja,“, sage ich und ziehe das zweite a über Gebühr in die Länge. „Es gibt ja trotzdem eine übergeordnete, allgemeingültige Moral. Mord zum Beispiel. Der ist gesellschaftlich geächtet.“
„Aha, was alle wollen ist also richtig? Du bist Anhänger einer“, ich kann sehen, wie er in Gedanken die richtige Seite im Wörterbuch sucht „Anhänger einer plebiszitären Ethik? Heißt das, ich dürfte dir jetzt eins mitten ins Gesicht hauen, wenn ich mindestens eine Person finde, die sich zu uns an den Tisch setzt und mein Vorhaben gutheißt?“ Ich verschlucke mich vor Schreck. Heiko nutzt die Gunst der mir schaumig aus dem Schlund sprudelnden Sekunde und ruft quer durch den raucherfüllten Raum: „Wer unterstützt mein Vorhaben, diesem Herren hier kraftvoll eins in die Fresse zu zimmern?“
„Ich!“, dröhnt aus einer dunklen Ecke schräg gegenüber.
„Hannah?“, fragen Heiko und ich unisono. Streng genommen fragt Heiko, bei mir klingt es eher wie „Hgrngha?“, aber wer wird denn jetzt kritisch sein?

Die Suche nach Worten, derer es bedarf, um die Art und Weise zu beschreiben, in welcher Hannah sich bedrohlich unseren Hockern nähert, führt früher oder später zu dem Regal mit den Militärika. „Vorstoß“ wäre so ein Wort. Vielleicht auch „Walzen“ oder „Kollateralschaden“, auf keinen Fall aber „Giraffe“ oder „Himbeere“. Ich habe mich oft gefragt, wie Menschen sich fühlen, die neben einem aktiven Vulkan leben müssen, was sie denken, wenn sie zur Spitze des alles überragenden Massivs aufblicken und dort die ersten dunklen Rauchwölkchen erkennen können.
„<<<>>>“, atmet Hannah und knackt dabei mit dem Unterkiefer.
„Weißt Du...“, flüstert Heiko mir ins Ohr. „...eigentlich wollte ich dir nur dein Bier klauen. Ich hätte es mir geschnappt und dann damit begründet, dass das aus meiner Perspektive geradezu eine Heldentat gewesen sei, weil ich dich so vor einem Arbeitstag voller Kopfschmerzen bewahrt hätte oder irgend so einen Quatsch. Aber ich muss sagen, das hier finde ich noch viel witziger.“
„Geht mir anders.“, sage ich aus dem Mundwinkel heraus.
„Der Werterelativismus frisst uns alle auf“, sagt Heiko, nippt an meinem Bier und lehnt sich zurück.

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